Gibt es „ungezogene“ Kinder?

 

Schon die Frage scheint dem „Mainstream“ als Provokation: natürlich gibt es die! Es sind sogar sehr viele Kinder „ungezogen“.

Wenn das so ist, ab wann gelten Kinder denn als „ungezogen“? Ist ein Baby, das vor Langeweile schreit (wie sonst soll es sich äußern!) und Mutter/Vater nervt, ungezogen? Anders herum: Wenn ein Baby beispielsweise bei der Taufe ganz still alles über sich ergehen lässt – ist es dann brav?

Ist eine Zehnjährige, die sich strikt weigert, etwas aufzuräumen, das sie zuvor benutzt hat, ungezogen, wenn sie ein Theater der Spitzenklasse gegenüber ihrer Mutter ob deren Aufforderung aufführt?

Warum gibt es eigentlich keine ungezogenen Erwachsenen? Oder gibt es die doch?

Ist ein Kind ungezogen, wenn es sich kindlich normal dem Alter entsprechend verhält (auf Deutsch auch mal lärmt) – oder ist es brav, wenn es nie einen Mucks sagt und immer das tut, was die Erwachsenen von ihr/ihm wollen?

Mit dieser letzten Frage möchte ich zu den Antworten aus meiner Sicht überleiten. Für mich ist der Begriff „ungezogen“ extrem negativ besetzt. Ich zum Beispiel war als Kind schon ungezogen, wenn ich ganz ruhig gefragt habe, warum ich dies oder das jetzt machen soll. Aber erst als Erwachsener habe ich auf die oben gestellten Fragen ein paar Antworten gefunden.

Meine These: ES GIBT KEINE UNGEZOGENEN KINDER! SIE WERDEN ERST DURCH DIE BEHANDLUNG SEITENS DER ERWACHSENEN „UNGEZOGEN“!

Zunächst ein Beispiel dazu. Szene im Supermarkt, an der Wursttheke. Mama kauft Wurst, das Kind (geschätzt ca. 4 oder 5 Jahre alt) quengelt nach einer bestimmten Sorte Wurst, die Mama aber nicht kauft – weil sie diese Wurst nicht mag. Kind quengelt stärker – und dann?

Jetzt kommt etwas sehr Trauriges! Die Mutter, erkennbar an Sprache und Gestik nicht der Intelligenz zuzuordnen, verpasst dem Kind eine Ohrfeige, so heftig, dass die Kleine strauchelt. Sie schreit vor Schmerz und Demütigung – was ihr gleich noch eine Ohrfeige einträgt, dann auch noch einen heftigen Schlag auf den Po. Alle Umstehenden schauen pikiert weg. Mutter packt ihr Kind und rennt mit dem schreienden Bündel hinaus.

Leider, leider wurde ich Zeuge dieser Ereignisse. Das ist jetzt schon viele Jahre her, aber nie werden ich die Miene und das Schreien dieses kleinen Kindes vergessen. Noch einmal die Frage: war das Kind ungezogen, als es nach dieser einen Sorte Wurst quengelte? War nicht eher die Mutter ungezogen ob ihres Verhaltens? Konnte sie überhaupt etwas dafür?

Man lese sich vielleicht noch einmal die kleine Geschichte von der „Bürstenaffäre“ durch. Ist das Kind, das sich so verhalten hat, ungezogen?

 

Genug davon! Kommen wir jetzt mal zu ein paar Antworten nebst Begründungen. „Brav“ ist ein Kind offenbar immer dann, wenn es genau das tut, was die Erwachsenen wollen. Gibt es solche Kinder, wenn sie geistig gesund sind? Natürlich nicht! Wären solche Kinder wünschenswert? Um Himmels Willen! Es gibt doch unter den Erwachsenen schon viel zu viele Ja-sage-Maschinen, oder? Wollen wir wirklich Kinder auf diese Weise entmündigen, ihren Willen brechen, bis sie als seelische Wracks in allem zu Willen sind?

Grenzt das nicht schon an vorsätzlichen Kindesmissbrauch?

Ich möchte hier einen Gegenvorschlag machen. Ein Kind darf und soll nicht einfach brav sein. Dann können wir uns als Gesellschaft gleich einsargen lassen. Wir müssen den Kindern einfach beibringen, dass sie für ihr Tun mit zunehmendem Alter auch zunehmend verantwortlich sind!

Hach, ist das wieder eine tolle Phrase! Als Vater zweier inzwischen erwachsener Kinder sage ich aber, dass das ganz einfach ist – „konkret“, wie man das auf neudeutsch nennt. Jedes Kind lernt rasch, dass auch mal was schief geht (oder sollte es zumindest rasch lernen). Nichts ist schlimmer, als wenn Erwachsene hier helfend eingreifen – außer natürlich das Kind vor Verletzungen bewahren. Schon ein Dreijähriger kann das ohne Weiteres lernen. In meinem Roman „Das Mädchen, das zweimal geboren wurde“ habe ich hierzu in einem anderen Zusammenhang ein Beispiel erzählt: Der dreijährige Leon war leidenschaftlicher Eisenbahnfan (die Bahnlinie führte dicht an unserem Haus vorbei). Einmal wollte er unsere Gartenstühle in Form einer Eisenbahn postieren. Dabei haben sich zwei Stühle verhakt – er bekam es einfach nicht so hin, wie er wollte. Es ist erstaunlich, wie lange er es versucht hat, aber dann riss ihm doch der Geduldsfaden.

Zu diesem Zeitpunkt wollte meine gerade zu Besuch weilende Schwiegermutter helfend eingreifen. Ich habe sie sofort daran gehindert und ihr erklärt, dass ein Kind einfach lernen muss, dass auch mal was nicht geht! Und am Besten lernt nun mal ein Kleinkind! Wenn er es jetzt nicht lernt, lernt er es später nie mehr, und das wäre wirklich schlimm.

Meine Schwiegermutter grollt noch heute über mein „unmögliches Rabenvaterverhalten“.

Leon schrie also auf vor Wut. War er also jetzt ungezogen? So ein Quatsch! Ich ging zu ihm, aber nicht, um ihm mit den Stühlen zu helfen, sondern um ihn auf den Arm zu nehmen und zu trösten.

Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis er sich beruhigt hatte. Behutsam ermunterte ich ihn, es doch noch einmal zu versuchen. Das tat er auch – und diesmal bekam er es auf Anhieb hin.

Muss ich noch näher ausführen, wie es ihm jetzt ging?

Aber zurück zu der Verantwortlichkeit. Ein Kind, das uns Erwachsenen beim Tisch decken helfen will und einen Teller fallen lässt, gehört nicht ausgeschimpft, sondern getröstet! Auch wenn man dem Kind vorher gesagt hat, dass es das lieber uns überlassen sollte. Es bestand darauf – und irgendwie muss es ja auch seine Erfahrungen machen!

Nachdem sich das Kind beruhigt hat, drücke man ihm Handfeger und Müllschippe in die Hand. Das reicht schon! Das Kind wird mit Hingabe die Scherben auffegen und selbst dann noch fegen, wenn die Scherben längst alle beseitigt sind.

Noch ein Beispiel gefällig? Meine Frau näht sehr gerne und hantiert daher immer wieder mit Stecknadeln. Nun haben die aber so herrlich bunte Köpfe. Kind sieht es – und möchte natürlich sofort zugreifen. Soll man das zulassen, man will ja nicht immer alles verbieten?

Natürlich nicht! Andererseits nützt es gar nichts, dem Kind zu erklären, wie gefährlich die Stecknadeln sind – die bunten Köpfe wirken wie ein Magnet. Wegstellen bringt auch nichts – jedes halbwegs intelligente Kind wird herausbekommen, wo sie aufbewahrt werden.

Also, was tun?

Kind auf den Schoß nehmen, neben sich die Schachtel mit den Stecknadeln. Dem Kind gestatten, eine herauszunehmen. Erste Überraschung: Das Kind wird nur sehr zaghaft und nur mit Ermunterung ganz vorsichtig eine Nadel herausziehen.

Dann nehme man dem Kind die Nadel vorsichtig aus den Fingern – und pikse sie noch vorsichtiger ein wenig auf die Hand des Kindes. Zucken! Dann hebe man den Zeigefinger und sage sehr eindringlich: „gefährlich!“ Das reicht schon!

Das kann man wiederholen, aber das Kind wird rasch die Lust daran verlieren. Und ich garantiere: Von Stund an kann die Schachtel mit den Stecknadeln offen auf dem Tisch herum stehen, spielend erreichbar für das Kind: Es wird die Dinger nie wieder anrühren – bis es sehr viel später vielleicht von der Mama abgeschaut hat, wozu die Dinger eigentlich da sind.

Das gleiche Spiel kann man mit einer heißen Kochplatte machen (natürlich ohne die Berührung zuzulassen!) – es reicht, dass das Kind die Glut fühlt.

 

Kommen wir zu einem Fazit. Kinder müssen gelenkt werden, um sie vor Gefahren zu schützen. Sie brauchen Grenzen, um später nicht grandios zu scheitern. Der Protest des Kindes gegen das Setzen dieser Grenzen ist normal, gesund und absolut notwendig, auch wenn dieser Protest noch so lautstark geäußert wird!

 

All das eben Gesagte lässt sich in 12 Forderungen eines Kindes an seine Eltern/ErzieherInnen zusammenfassen (ich hoffe, man kann es lesen):