Über Mut und Übermut

 

Immer wieder kommt es unter Kindern und auch Jugendlichen zu sog. „Mutproben“. Wer bei diesen Mutproben scheitert, gilt als Versager. Da das niemand sein will, folgt man einfach den Vorgaben derjenigen, die sich diesen Mutproben bereits unterzogen haben. Aber ist das wirklich mutig?

Ich liebe Beispiele, und so wollen wir uns mal folgende Standardsituation vorstellen. Da ist ein Mauer, sagen wir mal etwa zwei Meter hoch. Der Untergrund: keine weiche Grassode, sondern eine asphaltierte Fläche, ein Parkplatz. Da herunter zu springen erfordert sicher Mut, aber natürlich ist es auch gefährlich – gerade für Kinder in der Altersgruppe 10 bis 13 Jahre, um die es hier gehen soll.

Etwa dieses Alter hatte eine Gruppe von Jungen, die sich zu einer Bande zusammengeschlossen haben (der Begriff Bande stammt von ihnen selbst). Dann kam einer, der gerne auch Mitglied dieser Bande sein wollte. Man bedeutete ihm, dass dies nur über eine Mutprobe ging – eben von dieser Mauer zu springen.

Keiner der Jungen wollte es ihm vormachen. Schließlich kletterte der Proband hinauf – und kaum hatte er von oben hinunter gesehen, als sich die Angst deutlich auf seinem Gesicht abzeichnete. Die unten Stehenden feixten und provozierten ihn immer mehr – bis er…

Stopp! Was wäre hier mutig? Der Proband hat ja genau zwei Möglichkeiten – springen oder nicht springen. Die Reaktion der Bande war bei jeder der beiden Möglichkeiten leicht vorhersehbar. Wie viel war ihm nun aber die erstrebte Mitgliedschaft in der Bande wert?

Was mag dem Jungen da oben durch den Kopf gegangen sein? In solchen Situationen jagen sich ja die Gedanken mit Lichtgeschwindigkeit. Da war seine Angst, von den anderen ausgelacht zu werden. Aber auch seine Angst vor der Tiefe. Schließlich hatten die beiden entgegen gesetzten Ängste seine Gedanken zerstört – und er dachte gar nichts mehr.

Und das war seine Rettung! Er sprang nicht, sondern arbeitete sich vorsichtig unter dem Gejohle der Bande wieder hinunter – was natürlich das einzig Vernünftige war. Mit hängendem Kopf schlich er davon, krampfhaft bemüht, vor den anderen die Tränen in seinen Augen zu verbergen.

Das eigentlich und wirklich Traurige an dieser Geschichte ist, dass niemand zugegen war, der ihm erklären konnte, wie ungeheuer mutig er war! Er selbst hielt sich nämlich jetzt für einen absoluten Versager. Dass er das nicht war, dürfte für Erwachsene mit Denkkraft aber offensichtlich sein.

Das Schicksal wollte es, dass ich diesen Jungen sehr gut kannte. Er wohnte in der Nachbarschaft, und ich habe von klein auf immer wieder mit ihm gespielt und getobt. Auch zu seinen Eltern hatte ich ein freundschaftliches Verhältnis, und so erzählte mir seine Mutter am nächsten Tag, in welch jämmerlichem Zustand er gestern nach Hause gekommen war. Leider hatte sie kein Wort herausbekommen, was geschehen war – ob ich nicht mal…?

Nach einem kurzen Hin und Her konnte ich ihn dazu bringen, mir die ganze Geschichte zu erzählen (das war natürlich wieder sehr mutig von ihm!) Sanft legte ich ihm meine Hand auf seine Schulter und erklärte ihm: „Warum schämst du dich eigentlich so? Ich fand es ungeheuer mutig, dass du nicht gesprungen bist! Überleg doch mal: Springen wäre doch eine Dummheit gewesen! Zu nichts nütze, völlig sinnlos – und die Beine hättest du dir auch brechen können. Die Bande solltest du nicht so ernst nehmen. Und du solltest froh sein, nicht bei ihnen zu sein – wer möchte schon in einer Bande von hirnlosen Hohlköpfen sein?

Kannst du dir vorstellen, dass irgendeiner der Kerle aus der Bande auch nur ansatzweise den Mut gehabt hätte zuzugeben, dass er Angst hat? – Siehst du, ich auch nicht!“

Fazit: Manchmal ist es viel mutiger, „feige“ zu sein als „mutig“ zu sein!

 

Und wie ist das nun mit dem Übermut? Das ist in gewisser Weise viel leichter unter Kontrolle zu bringen. Es ist vorstellbar, dass einer aus purem Übermut von einer solchen Mauer gesprungen wäre, ohne provozierende Bande und ohne Mutprobe. Oder was auch immer. Schon das Sprichwort sagt ja „Übermut tut selten gut“. Aber was kann man tun, damit das nicht eine abgedroschene Phrase bleibt?

Es liegt in der Natur der Sache, dass sich Übermut nur im Beisein anderer, in der Regel der Eltern manifestiert. Übermut ist zumeist eine Folge – im Sinne des Wortes – überschäumender Lebensfreude. Ein einfaches „Hey, beruhige dich! Lass den Quatsch!“ würde vermutlich nicht viel bewirken. Besser ist es, mit einem übermütigen Kind mitzutoben. Zum Beispiel indem man mit ihm Fangen spielt. Oder Verstecken. Jedes übermütig fröhliche Kind wird sofort mit Begeisterung dabei sein! Voraussetzung ist aber, dass der/die Erwachsene/n ernsthaft mitspielen. Lassen Sie sich ruhig von der Freude des Kindes anstecken! Vergessen Sie Ihre Sorgen! Seien Sie so unbeschwert glücklich wie das Kind – und Übermut kann auf einmal etwas Wunderbares sein – für Kind und Erwachsenen! Wenn das Kind dann immer noch über die Stränge zu schlagen droht – jetzt ist es sehr einfach für jeden wohlmeinenden Erwachsenen mit etwas Denkkraft, positiv auf das Kind einzuwirken.

Fazit: Übermut tut IMMER gut – wenn man ein paar Dinge beachtet!