Die Bürstenaffäre

 

oder

 

kleine Kinder ticken anders

 

Wer kennt sie nicht, diese Szenen im Kaufhaus, im Supermarkt oder auch in der S-Bahn: ein Kleinkind im Buggy spielt hingebungsvoll mit seiner Haarbürste. Diese fällt plötzlich zu Boden. Das Kind schreit sofort danach, denn aus dem Buggy kommt es nicht heran. So weit, so gut; kann ja mal vorkommen. Aber wie geht es jetzt weiter?

Natürlich wird sich Mutter oder Vater sofort bücken und dem Kind die Bürste reichen. Was macht das Kind? Es schaut mit einem zu einem Fragezeichen verzogenen Gesicht erst die Eltern, dann die Bürste, dann wieder die Eltern an. Mit weit geöffneten Augen und offenem Mund schmeißt es die Bürste aus dem Wagen, diesmal sichtlich mit voller Absicht.

Noch denken sich Mutter oder Vater nichts dabei. Sie heben die Bürste wieder auf und geben sie zurück.

Diesmal dauert es keine Sekunde, bis die Bürste wieder aus dem Buggy fliegt, womöglich diesmal in hohem Bogen. Und das Kind lacht dabei, freudig erregt.

Das wird Mutter oder Vater nun zu viel. Die Bürste wird ein letztes Mal aufgehoben und in die Einkaufstasche gesteckt.

Aber dann geht die Post ab!

Einen Moment schaut das Kind verblüfft. Dann fängt es an zu schreien und zu toben. „Ich will meine Bürste haben!“ Genervt wird sie wieder hervorgekramt und dem Kind vorgehalten. Kind grapscht danach und schmeißt die Bürste augenblicklich wieder aus dem Buggy!

 

Man kann sich vorstellen, wie diese Szene immer weiter eskaliert. Erst schreit das Kind, dann auch Mutter oder Vater. Aus einem fröhlichen Spiel ist schlimmer Ernst geworden!

 

Moment mal – lässt sich das nicht vermeiden?

 

Wenn sich die Gemüter der Erwachsenen wieder etwas beruhigt haben, können sie sich ja mal fragen, warum das Kind so „ungezogen“ war. Wollte es Mutter/Vater vielleicht nur ärgern?

Für Eltern, die ihre Kinder lieben, beantwortet sich diese Frage von selbst – mit einem klaren nein. Kein Kleinkind will seine Eltern „ärgern“ – hängt doch sein Leben von ihnen ab. Was aber kann dann der Grund für dieses Verhalten sein?

 

Hierzu muss man sich mal in die Denk- und Erlebenswelt kleiner Kinder versetzen. Wenn man sich klar macht, was dieser Vorgang aus Sicht des Kindes bedeutet, ist die Lösung ganz einfach! Das Kind lernt nämlich gerade etwas, das für uns Erwachsene vollkommen selbstverständlich ist, nämlich zielgerichtetes Handeln. Es macht irgendetwas, darauf folgt etwas anderes – aber immer das Gleiche! Das muss sofort noch mal ausprobiert werden! Die Bürsten fliegt weg, und – ja, tatsächlich! Mama bückt sich wieder!

 

Für das Kind ist dieser Lernerfolg ein ungeheures Aha-Erlebnis. Das ist so schön, dass es immer wieder probiert werden muss. Aber ach! Was passiert dann? Mutter/Vater wird plötzlich ganz böse! Sie nehmen die Bürste weg. Das geht dem Kind natürlich gehörig gegen den Strich! Dass Mutter/Vater böse wird, ist dem Kind in diesem Moment so fremd wie der Mond! Umso schlimmer für das Kind, wenn es das dann merkt.

Kind hat Mama/Papa böse gemacht – aber warum denn nur? Das ist doch so ein schönes Spiel!

 

Lösung: Natürlich ist es für Mutter/Vater unzumutbar, sich ewig und drei Tage lang nach dieser dämlichen Haarbürste zu bücken – vor allem im Kaufhaus oder in der S-Bahn. Das Geschrei des Kindes, wenn man die Bürste wegnimmt, ist aber genauso unzumutbar. Was also tun?

Wenn man den Zusammenhang kennt, könnte man so vorgehen: Man macht das Spiel noch zwei- oder dreimal mit, aber nicht öfter. (Man sollte auf keinen Fall warten, bis das Kind von sich aus die Lust an diesem Spiel verliert – das wird niemals der Fall sein).

Dann steckt man die Bürste wirklich weg und nimmt das Kind sofort auf den Arm – auch wenn es gleich anfängt, nach der Bürste zu schreien. Ruhig bleiben! Man flüstere dem Kind alles Mögliche ins Ohr, möglichst zärtlich und mit ganz viel Liebe. Was man sagt, ist völlig unerheblich – man kann ja versuchen zu erklären, warum Mutter/Vater nicht mehr mitspielen will. Dabei zärtlich hin und her wiegen – das Kind wird garantiert schon nach wenigen Sekunden aufhören zu schreien – und sich besonders innig an Mutter/Vater kuscheln.

Dieses Vorgehen würde insgesamt nur wenige Minuten dauern, die man sich aber immer für ein Kind nehmen sollte. Danach kann man es in den Wagen zurücksetzen – die Bürste wird nie mehr auch nur ansatzweise ein Thema sein.

 

 

© Chris Frey

 

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