Das Stöckchen-Problem

Chris Frey


Hiermit möchte ich versuchen, einen weiteren Ausflug in kindliche Denkwelten vorzunehmen. Damit möchte ich zeigen, wie sehr wir Erwachsenen es manchmal verlernt haben, wie Kinder zu sein. Ein erstes Beispiel dieser Art zeigt meine kleine Geschichte vom Glücksfest.

Hier geht es um ein noch kleineres Kind, sagen wir, 2 bis 3 Jahre alt. Zur Illustration soll die folgende kleine Geschichte dienen:


Urlaub am Strand an einem herrlichen, warmen Sommertag. Papa spielt mit dem kleinen Robin im Sand. Der Auslauf der Wellen vom Meer reicht gerade noch bis hierher.

Robin und Papa werkeln an einer kleinen Sandburg, die möglichst den Wellen trotzen soll. Eine Welle schafft es nicht ganz bis zu dem kleinen Bauwerk, aber die Durchweichung reicht aus, um den einen kleinen Wall einstürzen zu lassen. Robin ist dicht an den Tränen.

Schau mal“, sagt Papa, „dahinten haben die Wellen was angespült. Schau doch mal, ob du da kleine Stöckchen findest. Die stecken wir hier rein und dann ist alles viel stabiler!“

Robin rennt sofort los und hockt sich bei der Stelle nieder. An einer Flutschutz-Mole hatten die Wellen etwas Reisig angeschwemmt. Papa sieht von weitem, wie Robin da rumwerkelt. Allein – er kommt nicht wieder! Was macht er da eigentlich die ganze Zeit?

Tja, was macht Robin? Schauen wir mal!

Er wühlt in dem kleinen Haufen, eine Mischung aus Muschelschalen, Seetang-Fetzen und tatsächlich so etwas Ähnlichem wie Stöckchen. Dann macht er eine Entdeckung!

Er weiß, trockenen Sand kann man nicht in größerer Menge mit der Hand halten. Wasser schon gar nicht. Aber dann greift er in den von den Wellen angefeuchteten Sand – und plötzlich kann er sogar richtig große Sandbälle daraus formen! Was einzeln nicht geht, geht zusammen! Mann, was für eine Entdeckung! Das muss er gleich Papa zeigen!

Er formt eine größere Kugel aus feuchtem Sand und stürmt voller Begeisterung zu seinem Papa. Und was macht der?

Er schimpft! „Wo bleibst du denn mit den Stöckchen? Sieh her, jetzt ist alles schon zerlaufen!“

Robin steht wie vom Donner gerührt. Er schmeißt die Sandkugel auf den Boden, fängt an zu weinen und läuft weg.

Papa ist zutiefst erschrocken. War er jetzt zu streng mit seinem kleinen Sohn gewesen? Er läuft ihm nach.

Aber Robin weicht ihm aus, und weil er ein guter Vater sein möchte, lässt er ihn danach in Ruhe. Er weiß, dass Robin irgendwann von sich aus wieder zu ihm kommen wird.


Ein weinender kleiner Junge, ein besorgter Vater mit Gewissensbissen, der nicht weiß, was mit seinem kleinen Sohn los ist. Und alles nur wegen ein paar Stöckchen. Was war da geschehen?


Nun, unser wohlmeinender Vater hat einfach übersehen, dass in diesem Alter kein normales Kind einfach spielt, sondern – lernt! Mit allem, was es macht, lernt es! Und jede Unterbrechung dieses Lernprozesses ist von Übel.

Robin hatte gerade gelernt, dass man aus zwei Dingen, die man einzeln nicht formen kann, dies aber sehr wohl bewerkstelligen kann, wenn man sie zusammenführt. Eine solche Erkenntnis ist für jedes Kind diegroße Sache! Das musste er unbedingt sofort seinem Papa zeigen!

Aber Papa – schimpft...


© Chris Frey Februar 2015