Das Mädchen, das zweimal geboren wurde

zum Vergrößern in den Text klicken
zum Vergrößern in den Text klicken

C h r i s F r e y

 

Das Mädchen, das zweimal geboren wurde

 

Roman

 

August von Goethe Literaturverlag

 

ISBN 978-3-8372-0269-4

 

 

L e s e p r o b e

 

Eine Rezension dieses Romans ist im Internet abrufbar unter:

 

www.literaturmarkt.info

 

Der Roman ist über Internet (Amazon) sowie in allen guten Buchhandlungen erhältlich, doch muss er in Letzteren wohl erst bestellt werden.


L e s e p r o b e

 

 

 

1. Kapitel

 

Eigentlich hatte ich mich auf meinen Ruhestand gefreut. Aber als es vor vier Monaten dann soweit war, fiel ich wie viele Ruheständler vor mir in eine Art Loch. Als Naturwissenschaftler hatte man sich daran gewöhnt, immer neuen Herausforderungen zu begegnen, die die Natur für einen bereit hält, aber davon gab es für mich jetzt keine mehr. Außer der, vielleicht jetzt eine ganz neue Herausforderung zu finden!

Was soll’s! Ich kann auf ein erfülltes Arbeitsleben zurück blicken. Im Prinzip genoss ich meinen Ruhestand. Wanderungen, Ausflüge, mein kleiner Garten – das hielt mich auf Trab. Heute war ich ziemlich weit gewandert und darum jetzt wohlig müde. Ich konnte ja nicht wissen, dass dies der letzte ruhige Abend meines Lebens sein sollte!

Ich schlief auch rasch ein. Jedoch – mitten in der Nacht schreckte ich plötzlich hoch! War da nicht ein Geräusch? Nein, alles war völlig still.

Doch! Da knackte doch etwas! Stefanie konnte es nicht sein, die war heute Nacht bei ihrem Freund. So leise wie möglich stand ich auf und blickte die Treppe hinunter. Tatsächlich! Dort unten bewegte sich ein Schatten! Einbrecher! Und das bei mir!

Eine andere Bewegung erregte kurz meine Aufmerksamkeit – die Gardine vor der Terrassentür wehte leicht! Du Blödmann! schalt ich mich, hast vergessen die Türe zuzusperren!

Das half jetzt aber nichts! Der Einbrecher war nun mal da. Plötzlich blinkte eine kleine Taschenlampe auf. Der Einbrecher schob am Bücherschrank einige Schubfächer auf und wieder zu. Seine Bewegungen kamen mir irgendwie hastig und unbeholfen vor, auf jeden Fall sehr dilettantisch. Sehr merkwürdig erschien mir die Größe des Einbrechers – er war nämlich ungewöhnlich klein! Gefährlich war dieser Einbrecher sicher nicht. Schon bald entdeckte ich die Faszination des Ganzen. Schließlich hatte ich noch nie live einen Einbruch erlebt!

Jetzt hatte der Kerl meinen Schreibtisch entdeckt. Das war schon brisanter. Aber er hielt sich nicht weiter auf und setzte seinen fast lautlosen Rundgang fort. Er entdeckte die Küche – und plötzlich kam große Hast in seine Bewegungen! Der charakteristische Lichtschein in der Küche verriet mir, dass er sich jetzt am Kühlschrank zu schaffen machte. Was im Himmel hatte ein Einbrecher am Kühlschrank verloren?! Ich beschloss einzugreifen!

Ganz leise schlich ich die Treppe hinunter – in meinem Alter kein allzu leichtes Unterfangen mehr. Außerdem wusste ich, dass die vierte Stufe knarrte, die musste ich also überspringen. Der Einbrecher war immer noch schwer am Kühlschrank beschäftigt und hätte mich wohl auch dann nicht bemerkt, wenn ich die knarrende Stufe nicht ausgelassen hätte!

Ich schlich noch zur Terrassentür, denn zur Rede stellen wollte ich den Kerl schon. Neben der Tür befand sich ein Lichtschalter. Eine Sekunde später erstrahlten Wohnzimmer und Treppenflur in hellstem Licht!

Meine Überlegung war richtig! Nach einer kurzen Schrecksekunde raste der Einbrecher zur Tür – und mir genau in die Arme!

Er taumelte zurück, und erst jetzt bekam ich den größten Schreck meines Lebens: Das war gar kein Kerl, sondern ein kleines Mädchen, ein Kind! Mit riesigen, vor Schock und Entsetzen weit aufgerissenen Augen starrte es mich an.

Ich erschrak gleich noch einmal, als ich die jämmerliche Gestalt des Kindes erfasste! Der Begriff ‚verwahrlost’ wäre noch stark untertrieben gewesen. Ein Pullover, so schmutzig, dass man seine Farbe beim besten Willen nicht mehr erkennen konnte, und eine viel zu große Jeans schlotterten um ihrem ausgemergelten Körper. Ihr Haar mochte blond sein, aber die fettigen, verfilzten Strippen konnte man kaum noch als Haar bezeichnen. Und wie die Kleine stank! Wann um Himmels Willen hatte sie zum letzten Mal unter einer Dusche gestanden?

Bald aber fesselte mich wieder ihr Blick, diese weit aufgerissenen tiefblauen Augen; ein schreiender Gegensatz zu ihrem schmutzigen Äußeren! Niemals zuvor habe ich eine solche geballte Ladung nackter Not, Verzweiflung, Entsetzen und Angst in einem Kinderblick gesehen; und wenn es nach mir ginge, dürfte ein Kind nie und nimmer so starren! Plötzlich packte mich das Mitleid mit diesem Geschöpf! Ich musste mich beherrschen, sie nicht gleich tröstend in den Arm zu nehmen! Das war doch keine Einbrecherin!

Immer noch starrten ihre blauen Strahler. Dann begann ihr schmächtiger Körper zu beben. Sie verdrehte die Augen; riss die Arme hoch. Da war ich schon bei ihr. Ohnmächtig sank sie an meine Brust.

Ich hob sie hoch und legte sie auf mein Sofa, ein stinkendes, schmutziges Bündel nackter Verzweiflung! Dabei erschrak ich gleich noch einmal: Die Kleine war federleicht! Ich hob ein wenig ihren Pullover an. Sie trug nichts darunter. Der Anblick war entsetzlich: alle Rippen und der Brustkorb zeichneten sich überdeutlich ab! Dieses Kind hatte Hunger, grausamen, fürchterlichen Hunger! Natürlich war sie nicht auf Wertsachen aus gewesen, sondern auf etwas zu essen! Das gab es doch nicht! Wie in aller Welt war es möglich, dass ein Kind in unserer Wohlstandsgesellschaft einfach verhungerte? Ich fasste es nicht!

Plötzlich rührte sich das Kind und schlug die Augen auf. Zu Tode erschrocken fuhr sie hoch, aber da war ich schon bei ihr.

„Ruhig, meine Kleine, hab doch nicht solche Angst! Ich tue dir nichts! Das war wohl nicht so gut, hier einfach einzubrechen. Du hättest mich fragen können, ob du etwas zu essen haben darfst. Du hast Hunger, nicht?“

Ich wollte noch weiter beruhigend auf sie einreden, aber mir gingen die Worte aus. Dennoch, sie schien ruhiger zu werden. Vielleicht war es aber auch nur totale Erschöpfung. Ein Ausdruck tiefster Hoffnungslosigkeit und Resignation stahl sich in ihr Gesicht. Angst und Abwehr gingen von ihr aus – und standen in krassem Gegensatz zu dem intensiven Flehen in ihren Augen! Ich war völlig gefangen von dieser Erscheinung!

Immerhin, so langsam kam mein Denkapparat wieder in Gang. Ich konnte mir aber immer noch beim besten Willen nicht vorstellen, wie aus einem Kind das werden konnte, was hier vor mir lag!

Sie blieb stumm, doch war ich sicher, dass sie jedes meiner Worte verstanden hatte. Ich versuchte es noch einmal:

„Hast du Hunger?“ fragte ich leise und zärtlich, „möchtest du Brot? Oder einen Apfel?“

Sie senkte ihr Köpfchen. Dann kam ein klägliches, kaum wahrnehmbares Nicken.

In aller Eile suchte ich ein paar Scheiben Brot, Butter und Wurst zusammen. Ich stellte noch Milch und Apfelsaft nebst einem Becher auf das Tablett und brachte es ihr. Apathisch blieb sie auf dem Sofa liegen. Flüchtig sah ich auf die Uhr. Zwei Uhr, also mitten in der Nacht! Was soll’s! Ich musste schließlich nie wieder früh aufstehen, um zur Arbeit zu gehen! Also war es eigentlich egal!

„Musst du dir nicht die Hände waschen?“ fragte ich genauso zärtlich. Blöde Frage – das ganze Kind gehörte gehörig geschrubbt!

Es kam nicht die geringste Reaktion! Kurz streiften mich noch einmal ihre blauen Augen, dann blieben sie am Brot hängen. Mir wurde klar, dass hier das Beharren auf Prinzipien völlig fehl am Platze war!

„Komm, greif zu!“ forderte ich sie so freundlich wie möglich auf. „Magst du mir deinen Namen sagen?“

Keine Reaktion! Aber immerhin – zaghaft richtete sie sich auf und griff nach der ersten Stulle. Sie machte sich nicht die Mühe, sie mit Butter zu bestreichen, sondern biss einfach so hinein, zögernd erst, dann aber immer hastiger. Als sie nach der dritten Scheibe Brot griff, bremste ich sie.

„Vorsicht! Wenn du so ausgehungert bist, darfst du nicht zu viel auf einmal essen! Warte lieber einen Moment! Und du musst auch nicht so hastig trinken! Du bekommst sonst Bauchschmerzen!“

Immer noch blieb sie völlig stumm. Ihre Augen schlossen sich, beinahe gegen ihren Willen. Sie sank zurück auf das Sofa. Gleich darauf kam das ruhige, gleichmäßige Atmen einer Schlafenden.

Ächzend ließ ich mich in meinen Sessel fallen und begann nachzudenken.

Nahe liegend war natürlich die Vermutung, dass das Kind irgendwo ausgerissen war. Dagegen sprach jedoch die totale Verwahrlosung des Mädchens. So etwas konnte es selbst im lieblosesten Heim nicht geben. Was aber war mit ihren Eltern? Wo waren die? Es hätte doch wie üblich groß in der Zeitung gestanden, wenn ein Kind vermisst wird. Mir war aber nichts dergleichen aufgefallen! Außerdem muss diese Kleine mindestens seit einigen Tagen kein Zuhause mehr gehabt haben, denn die Vorstellung, dass selbst der böseste Mensch sehenden Auges ein Kind verhungern lässt, war undenkbar! Und doch war das Mädchen am Verhungern!

Fragen über Fragen! Es ging ja noch weiter! Eigentlich gehörte so ein Kind in ein Heim. Ich bezweifelte aber sehr, ob ein Heim in der Lage gewesen wäre, dem Kind wirklich zu helfen. Ein solcher Grad an Verwahrlosung in jeder Hinsicht konnte nur durch extreme Zuwendung und Fürsorge behoben werden. Außerdem war ich ziemlich sicher, dass ihr schwerste Gewalt angetan worden war – Kinder werden nicht einfach so wie das kleine Bündel hier auf meinem Sofa! Niemand konnte sich in letzter Zeit um sie gekümmert haben, in einem Alter, in dem ein Kind gerade Zuwendung und Liebe brauchte! Würde sie das in einem Heim finden? Wohl eher nicht!

Ich betrachtete das schlafende Kind. Ihr Gesichtchen war jetzt eindeutig entspannt. Man konnte erahnen, dass sich hinter der schmutzigen Fassade ein sehr anmutiges Gesicht verbarg. Außerdem hatte sich der intensive Blick aus ihren schreckgeweiteten Augen tief in mir eingebrannt! Fast sehnte ich mich danach, noch einmal einen Blick in diese phantastischen Augen werfen zu dürfen! Daran denkend, packte mich auf einmal eine neue Welle des Mitleids. Nein, wenn es irgend möglich war, durfte ich dieses Kind nicht einfach abschieben!

Auf jeden Fall hatte ich nun meine Herausforderung! Hoffentlich gab es nun nicht zuviel davon! Denn was sollte ich nun mit diesem armen Kind machen? Ich wusste nur, was ich auf keinen Fall machen würde, nämlich mit ihr zur Polizei gehen. Ich würde es nie und nimmer fertig bringen! Sie brauchte Hilfe, sehr, sehr viel Hilfe!

Schade, dass Stefanie heute nicht da war!

Leider hatte der Liebe Gott meine Frau schon vor einigen Jahren zu sich gerufen. Das schöne Einfamilienhaus, das wir bewohnten, war für mich allein jetzt eigentlich viel zu groß. Aber ich hatte nie Lust, umzuziehen. So fügte es sich gut, dass ich in der Zeitung gelesen hatte, wie dringend billiger Wohnraum für Studenten gesucht wurde. Es lag nahe, die oben liegenden Zimmer teilweise zu vermieten. Außerdem hatte ich dann auch etwas Gesellschaft.

Stefanie, Studentin der Biologie, war die ideale Untermieterin. Ruhig und fleißig, dazu sehr hübsch und sehr nett. Wenn sie Zeit hatte, half sie mir im Haushalt, oder setzte sich einfach auch mal zu mir, um zu plaudern. Dafür brauchte sie mir keine Miete zu zahlen.

Aber jetzt fehlte sie mir!

Ich wusste ja nichts von der kleinen Diebin! Warum bloß war sie so geworden, wie sie jetzt war? Wo kam sie her? Wohnte sie irgendwo? Wer waren ihre Eltern? Und am wichtigsten: Wer oder was hatte sie fast verhungern lassen!

Es war mir ja nicht gelungen, ihr auch nur einen Mucks zu entlocken! Vermutlich hatte ihr irgendein furchtbarer Schock die Sprache verschlagen. Psychologisch war eine solche Reaktion bei Kindern nicht ungewöhnlich. Nur – was für ein furchtbarer Schock könnte das gewesen sein?

Dann wurde mir beklommen zumute. Wie sollte es jetzt bloß weiter gehen? Ich konnte doch die Kleine nicht einfach so hier behalten! Das Jugendamt? Eine kalte, herzlose Behörde?

Oje, war das schwierig! Und so was auf meine alten Tage!

Die Nacht verging, aber ich war nicht mehr die Spur müde! Vielmehr strengte ich weiter meine grauen Zellen an. Zum Jugendamt musste ich wohl auf jeden Fall! Eventuell kannte man ja dieses Kind dort! Vielleicht sollte man auch nicht davon ausgehen, dass alle Behörden nur aus kalten Bürokraten bestanden.

Dann muss ich wohl doch in meinem Sessel eingenickt sein, denn als ich hochfuhr, war es draußen hell geworden. Mein ‚Einbrecher’ schlief noch immer selig und süß – ja, süß, denn ihr Gesichtchen war jetzt noch entspannter und die Anmut unübersehbar. Wenn sie doch nur nicht so stinkend schmutzig gewesen wäre! Mal sehen, vielleicht bekam ich sie ja unter die Dusche, wenn sie erst mal wieder wach war.

Ich erhob mich, um noch einmal die Terrassentür in Augenschein zu nehmen. Doch da rührte sich die Kleine plötzlich! Gleich darauf schrak sie in wilder Panik hoch! Mein Mitleid flammte auf!

„Ruhig, Kleine, du bist hier in Sicherheit“, sagte ich ruhig und monoton, „In meinem Haus gibt es keine Hektik! Hast du gut geschlafen? Möchtest du vielleicht frühstücken?“

Ohne mich zu beachten, richtete sie sich auf und sprach wieder kräftig dem Brot zu, wie vorhin trocken und ohne jeden Belag. Sie musste wirklich völlig ausgehungert sein!

Diesmal hörte sie von sich aus auf zu essen. Jetzt galt es, sehr behutsam vorzugehen.

„Hat es dir geschmeckt? Sag mal, möchtest du mir vielleicht deinen Namen sagen?“

Keine Reaktion! Und doch war ich sicher, dass ihr Gehör einwandfrei funktionierte. Nur ihre herrlichen blauen Augen fixierten mich wieder! Ich konnte Angst und Panik darin förmlich riechen! Hier war sehr viel Arbeit erforderlich, um wenigstens ein Minimum an Vertrauen aufzubauen.

„Magst du dich mal duschen?“ fragte ich, ruhig und einfühlsam. „Entschuldige, aber du kannst es brauchen! Schau, dort ist das Bad!“

Keine Reaktion! Nur angstgeweitete Augen sahen mich unverwandt an. Allmählich bekam ich weiche Knie unter diesem Blick. Womöglich noch behutsamer streckte ich meine Hand aus. „Komm, hab keine Angst!“ Fast staunte ich über mich selber, wie einfühlsam ich klingen konnte! „Glaub mir doch, du bist hier sicher!“

Meine Hand hatte sie fast erreicht, da rührte sie sich plötzlich. Nein, sie explodierte! Aber ganz anders, als ich gedacht hatte! Sie fuhr hoch wie von der Tarantel gebissen! Dann bearbeitete sie mich mit ihren Fäusten, das Gesicht zu einer furchtbaren Grimasse aus Wut und Verzweiflung verzerrt! So heftig kam die Attacke, dass ich rückwärts taumelte.

Obwohl zutiefst erschrocken über diesen Ausbruch blanken Hasses gelang es mir bald, mich halbwegs wieder zu fassen. Zum Glück war sie so schwach, dass ihre Schläge und Hiebe nach dem kurzen Aufbäumen keinerlei Kraft mehr hatten. Ich versuchte, sie zu bändigen.

Genauso plötzlich hörte der Anfall wieder auf, aber nicht aus besserer Einsicht, sondern weil sie schlicht und einfach schon wieder ohnmächtig geworden war!

Grenzenlose Enttäuschung machte sich in mir breit. Ich wollte ihr doch nur helfen! Warum war sie so überaus garstig gewesen? Ich meinte es doch wirklich nur gut mit ihr!

Wieder betrachtete ich das geschundene, jetzt wieder leblos liegende Bündel Mensch. Zorn und Enttäuschung verflogen so rasch wie Rauch im Wind. Irgendetwas war an ihr oder in ihr, das mich tief berührte! Es musste mit ihren Augen zu tun haben, diesem machtvollen Blick, der sich bis in mein Herz gebrannt hatte!

Ich bin nun wirklich nicht mehr der Jüngste. Außerdem konnte ich eine ganze Menge Lebenserfahrung sammeln, dachte ich jedenfalls. Aber hier war ich mit etwas konfrontiert, das meine Vorstellungen weit überstieg! Jedenfalls waren meine Beschützerinstinkte, geweckt durch ihre herrlichen, strahlenden Augen, inzwischen so stark geworden, dass ich mich dabei ertappte, wie sehr ich diesem kleinen Mädchen Wärme und Geborgenheit vermitteln wollte!

Ich versuchte, die Sache so rationell wie möglich anzugehen.

Die Kleine musste schlimmste Dinge erlitten haben, so viel war klar. Den Zorn, der sich dabei angestaut hatte, hatte sich nun auf mich entladen. Mit ein wenig Schaudern malte ich mir aus, wie sie mich wohl traktiert hätte, wenn sie bei vollen Kräften gewesen wäre!

Einsam kam sie mir vor, verletzlich, schwach, hilfsbedürftig. Mitleid schnürte mir auf einmal richtig das Herz zu. Andererseits durfte ich mich davon natürlich nicht überwältigen lassen. Weitere Abwehrreaktionen dieser Art waren zu befürchten, wenn es mir nicht gelang, ihr Vertrauen zu erringen.

In der Tat, noch mehr Herausforderung war kaum vorstellbar!

Meine Gedanken wurden unterbrochen, denn wieder regte sich die Kleine und schlug bald die Augen auf. Diesmal jedoch blieb sie apathisch liegen, mich unverwandt anstarrend. Die Panik war aus ihrem Blick verschwunden. Verlassenheit und Leere, eine Ursehnsucht nach Zuwendung waren jedoch noch immer darin. Wenn ich mich aber jetzt wieder ihr näherte, würde sie mich nicht wieder zurück stoßen?

Das Risiko musste ich eingehen! Ich wäre ja schon zufrieden gewesen, wenn ich sie hätte dazu bringen können, sich zu duschen! Auf Deutsch gesagt, sie stank zum Himmel! Ich versuchte es.

„Hallo Kleine!“ sagte ich und versuchte, meine Stimme genau so zärtlich klingen zu lassen wie vorhin, „willst du noch mal kämpfen? Oder möchtest du lieber noch eine Stulle essen?“

Jammerschade, dass es so schwer ist, ein Mienenspiel zu beschreiben! Nicht nur ihre Augen, sondern ihr ganzer schmächtiger Körper schienen sich in ein Fragezeichen zu verwandeln. Ich nahm das als ein gutes Zeichen, denn Verunsicherung war der erste Stein, der ihren Panzer erschüttern könnte. Fast schien es mir, als könne sie nicht glauben, dass jemand freundlich zu ihr war! Das ermutigte mich weiterzumachen.

„Entschuldige, Kleines, aber – du stinkst! Möchtest du nicht doch mal unter die Dusche?“

Keine Reaktion! Herrje, langsam wurde es echt schwierig! Wieder startete ich einen ganz behutsamen Annäherungsversuch. Immerhin, diesmal rührte sie sich auch dann noch nicht, als ich meine Hand schließlich sachte auf ihre Schulter legte. Ihre Augen nagelten mich jedoch fest! Fast bekam ich ein wenig Angst vor der unheimlichen Macht, die in ihrem Blick lag!

Ich versuchte es auf einem anderen Weg.

„Wollen wir vielleicht zur Polizei gehen? Gibt es da…“ Heftigstes Kopfschütteln, den Mund zu einem grauenhaften, wenn auch völlig lautlosen Schrei verzogen! Dann klammerte sie sich plötzlich an meinem Arm fest – abgrundtief verzweifelt! Mit einem Ratsch riss die Naht meines Hemdes auf. Klarer Fall, nie wieder durfte ich in ihrer Gegenwart das Wort ‚Polizei’ auch nur erwähnen! Was zur Hölle hatte dieses Kind bloß erlebt?!

„Ruhig, Kleine, ich mache doch nichts, was du nicht willst!“ Inzwischen war die Zärtlichkeit von ganz allein in meiner Stimme! „Möchtest du vielleicht nicht doch duschen?“

Jetzt endlich nickte sie schwach. Ich half ihr beim Aufstehen und führte sie ins Bad. Völlig teilnahmslos entledigte sie sich ihrer stinkenden Klamotten; sie ließ sie einfach auf den Boden fallen. Sie hatte keinerlei Hemmungen dabei, es war ihr völlig egal, ob ich daneben stand oder nicht.

Das gab mir Gelegenheit, ihren Körper näher zu betrachten. Es war entsetzlich! Sie bestand praktisch nur aus Haut und Knochen. Ihr Schienbein zierte eine hässliche Schramme, die stark geblutet haben musste. Jetzt war sie verschorft, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Wunde zu säubern. Am schlimmsten jedoch waren ein paar Striemen auf ihrem Rücken – die konnten nur von Schlägen her rühren! Die Vorstellung, was man diesem Kind angetan hatte, welche Qualen es erduldet haben musste, trieben mir beinahe Tränen in die Augen!

Das war ja noch nicht alles! Ihre stinkenden Klamotten kannte ich ja schon. Aber ihr Schlüpfer – ein einziger, übelriechender, undefinierbarer Fetzen! Schreiende Armut bis in ihre intimsten Bereiche! Folgerichtig war ihre Scheide rot, ja fast violett und entzündet. Das musste doch weh tun!

Ich schätzte ihr Alter auf acht bis zehn Jahre, allerdings hatte ich naturgemäß nie die Möglichkeit, einen Mädchenkörper bei der Entwicklung zu studieren. Aber das war im Moment auch unerheblich.

Ich machte Anstalten, sie im Bad allein zu lassen. Aber sofort schossen ihre Hände vor und klammerten sich um meinen Arm, mit der ganzen Kraft ihrer Verzweiflung.

„Keine Angst, wenn du willst, bleibe ich hier!“ sagte ich gerührt. „Soll ich dir beim Waschen helfen?“

Schwaches Kopfschütteln!

„Aber ich soll bei dir bleiben?“ Heftiges Nicken! Mannomann, was sollte das noch werden?

Die Dusche schien sie zu genießen. Immer wieder fuhr sie mit Seife und Schwamm über ihren Körper. Auch die Haare wusch sie gründlich mit dem Shampoo, das ich ihr hingestellt hatte. Als Wasser und Seife ihre Wunde am Schienbein berührten, zuckte sie zusammen. Wortlos nahm ich ihr den Schwamm ab und tupfte die Umgebung der Schramme sorgfältig. Sie verheilte und war auch nicht entzündet, aber älter als zwei oder drei Tage konnte sie nicht sein.

Endlich war sie fertig. Sie machte Anstalten, wieder in ihre verdreckten Sachen zu schlüpfen, aber ich hielt sie auf.

„Du kannst diese Sachen nicht anziehen!“ sagte ich bestimmt. „Sie sind schmutzig und stinken! Hier ist ein Bademantel, da kannst du dich hinein kuscheln! Deine Sachen stecke ich in die Waschmaschine!“

Widerstandslos leistete sie Folge. Ich zog sie zum Sofa. Dann kramte ich eine Haarbürste hervor. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr daran erinnern, wann ich sie zum letzten Mal gebraucht hatte. Mein Haaransatz war schon so weit zurück gerutscht, dass ich nicht einmal mehr einen Kamm brauchte!

Immer noch widerstandslos, ja apathisch ließ sie mich ihr Haar bürsten. Das sah jetzt schon ganz anders aus als vorher! Sie hatte wunderschöne, volle blonde Haare, die zu bürsten mir immer mehr Spaß machte.

So weit, so gut. Als nächstes musste ich versuchen, sie zum Sprechen zu bringen. Behutsam ließ ich sie auf das Sofa gleiten. Sie sah mich an, diesmal ganz ohne Angst oder Panik, sondern einfach nur so mit ihren wunderschönen, tiefen blauen Augen.

„Sag mir doch, wie du heißt, bitte!“ sagte ich ebenso leise wie eindringlich. „Ich muss dich doch irgendwie rufen können!“

Sie bewegte ihre Lippen; strengte sich sichtlich an, etwas zu sagen. Aber kein Ton kam über ihre Lippen! Konnte sie etwa wirklich nicht sprechen?

„Viola!“ kam es plötzlich, ein geflüsterter Hauch, aber dennoch deutlich vernehmbar. Ich ließ sie meine Freude spüren.

„Viola? Ist das dein Name? Kannst du auch sagen, wie alt du bist?“

Schweigen! Ich beschloss, einen Schritt weiter zu gehen. Immerhin mussten wir ja warten, bis die Waschmaschine fertig war.

Ich lächelte sie an. „Sag mir doch, was ich jetzt machen soll! So einfach bei mir bleiben – ich glaube, das geht nicht! Meinst du…“

Heftig flammten Angst und Panik in ihrem Gesichtchen auf und ließen mich verstummen. Oje, das konnte doch nur bedeuten, dass sie sich innerlich bereits an mir fest geklammert hatte, oder? Sonst war Angst wohl das einzige Gefühl, dass sie kannte – Angst vor allem und jedem! Vielleicht war sie schon mit Behörden in Berührung gekommen – vermutlich mit sehr unliebsamen Folgen für sie.

Wie auch immer! Es war jedenfalls ein zum Himmel schreiender Skandal, wie dieses Kind behandelt worden war! Irgendwie stachelte das meinen Ehrgeiz an, sie aus diesem furchtbaren Käfig heraus zu holen. Immerhin, ihr Vertrauen schien ich inzwischen zu besitzen, oder?

Sie schien hin und her gerissen. Erster vorsichtiger Optimismus machte sich in mir breit – und wurde gleich darauf brutal beendet! Es kam nämlich zu einer überaus hässlichen und schlimmen Szene!

Einen Moment lang dachte ich, sie würde müde zurück sinken. Statt dessen fuhr sie auf einmal hoch und riss sich den Bademantel vom Körper! Nackt ging sie vor mir in die Hocke, und ich erschrak zutiefst über das grauenhafte, widerwärtige Grinsen, das plötzlich in ihrem Gesicht aufgetaucht war. Dann nahm sie eine mehr als obszöne Pose ein. Wo zum Teufel hatte sie denn das gesehen?!

Schock und Entsetzen ließen mich erstarren! Nur sehr mühsam gelang es mir, mich wieder zu fassen. Ich wollte zu ihr stürzen, sie vom Boden hoch reißen – doch da setzte sie noch eins drauf! Kaum wage ich es zu sagen, weil ich mich so geniere, aber sie spreizte vor mir die Beine und urinierte auf den Teppich. Immer noch war da dieses widerliche und teuflische Grinsen, das plötzlich noch teuflischer wurde, weil...

 

Fortsetzung im Roman

Kommentar schreiben

Kommentare: 0